Zuletzt aktualisiert 25. November 2025
Viktor Frankl war ein Wiener Neurologe und Psychiater, geboren 1905. Seiner jüdischen Herkunft wegen deportierten ihn die Nazis erst ins Ghetto Theresienstadt und sodann über weitere Zwischenstationen nach Auschwitz. Er überlebte vier deutsche Konzentrationslager. 1946 wurde er Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik. Er führte die Einrichtung bis 1971.
In dieser Zeit entwickelte Frankl die Theorie der Logotherapie und der Existenzanalyse. Er kam zu dem Schluss, dass Menschen stets versuchen, in ihren Erfahrungen und in ihrem Leben einen Sinn zu finden. In diesem Zusammenhang kritisierte er die materialistisch-dekadente Grundtendenz der westlichen Gesellschaften und zeigte deren tödliche Risiken auf.
Denn Viktor Frankl hatte eine bittere Erfahrung gemacht: Die Selbstmordrate unter jungen Menschen in der österreichischen Wohlstandsgesellschaft war bereits zu seiner Zeit höher als die Selbstmordrate bei den Lagerinsassen in Auschwitz. Wie konnte das sein?
Wer keine Bindungen hat und nicht weiß, wofür er lebt, wird kein Glück im Leben finden. Und im Zustand der Unreife möglicherweise dazu tendieren, es wegzuwerfen. Gott und Vaterland waren den Menschen 1945 verlorengegangen. An ihre Stelle trat die tosende Leere einer sinnfreien Konsumgesellschaft, von der wir heute, im 21. Jahrhundert, erleben müssen, dass sie sich freiwillig von fremden, beispielsweise orientalisch-muslimischen Lebensweisen verdrängen lässt.
Im Jahr 1988 hielt Frankl auf dem Rathausplatz in Wien eine vielbeachtete Rede zum 50. Jahrestag des Anschlusses seiner Heimat an das Deutsche Reich. Dabei wandte er sich gegen Kollektivschuldvorwürfe. Er sagte:
„Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Sie bitte, zu dieser Stunde des Gedenkens gemeinsam mit mir zu gedenken:
Meines Vaters – er ist im Lager Theresienstadt zugrunde gegangen; meines Bruders – er ist im Lager Auschwitz umgekommen; meiner Mutter – sie ist in der Gaskammer von Auschwitz ums Leben gekommen; und meiner ersten Frau – sie hat im Lager Bergen-Belsen ihr Leben lassen müssen. Und doch muss ich Sie darum bitten, von mir kein Wort des Hasses zu erwarten.
Wen sollte ich hassen? Ich kenne ja nur die Opfer, aber nicht die Täter, zumindest kenne ich sie nicht persönlich – und ich lehne es ab, jemanden kollektiv schuldig zu sprechen.
Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht, und ich sage das nicht erst heute, sondern ich habe das vom ersten Tag an gesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde – und zu der Zeit hat man sich wahrlich nicht beliebt gemacht, wenn man es gewagt hat, öffentlich gegen die Kollektivschuld Stellung zu nehmen. (…)
Der Nationalsozialismus hat den Rassenwahn aufgebracht. In Wirklichkeit gibt es aber nur zwei Menschenrassen, nämlich die ‚Rasse‘ der anständigen Menschen und die ‚Rasse‘ der unanständigen Menschen.
Und die ‚Rassentrennung‘ verläuft quer durch die Nationen und innerhalb jeder einzelnen Nation quer durch alle Parteien.
Sogar in den Konzentrationslagern ist man hie und da auf einen halbwegs anständigen Kerl unter den SS-Männern gestoßen – genauso wie auf den einen oder anderen Falotten und Halunken unter den Häftlingen. Ganz zu schweigen von den Capos.
Dass die anständigen Menschen in der Minorität gewesen sind und voraussichtlich auch bleiben werden – damit müssen wir uns abfinden.
Gefahr droht erst dann, wenn ein politisches System die Unanständigen, also die negative Auslese einer Nation, an die Oberfläche schwemmt. Dagegen ist aber keine Nation gefeilt, und in diesem Sinne ist auch jede Nation grundsätzlich holocaustfähig!
Dafür sprechen nicht zuletzt die aufsehnerregenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie- Forschung, die wir einem Amerikaner verdanken. Sie sind unter der Bezeichnung ‚Milgram-Experiment‘ in die Geschichte eingegangen.
Wollen wir nur aus alledem die politischen Konsequenzen ziehen, sollten wir davon ausgehen, dass es im Grunde nur zwei Stile von Politik gibt oder vielleicht besser gesagt nur zwei Typen von Politikern: die einen sind nämlich diejenigen, die da glauben, der Zweck heiligt die Mittel, und zwar jedes Mittel, wenngleich es Mittel gibt, die selbst den heiligsten Zweck zu entweihen vermöchten. Und es ist dieser Typus von Politikern, dem ich zutraue, trotz des Lärms um das Jahr 1988 die Stimme der Vernunft zu hören und die Forderung des Tages, um nicht zu sagen des Jahrestages, darin zu sehen, dass alle, die guten Willens sind, einander die Hände entgegenstrecken, hinweg über alle Gräber und hinweg über alle Gräben.“
Wer heute versucht – beispielsweise im Zusammenhang mit der Diskussion über die AfD -Auschwitz für die Tagespolitik zu instrumentalisieren, sollte Viktor Frankl lesen, innehalten und bedenken, dass sich notwendig gewordene politische Veränderungen nicht durch die Verteufelung ihrer Träger aufhalten lassen.

