Karelien 1939, die Ukraine 2022 und die Idee vom „Ende der Geschichte“

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Zuletzt aktualisiert 1. März 2022

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist ein ganzes langes Menschenleben her, mehr als 80 Jahre. Zu den nach der deutschen Niederlage häufig gestellten Fragen gehörte diejenige, wie nur um alles in der Welt die Deutschen im Juni 1941 so dumm gewesen sein konnten, in die Sowjetunion einzumarschieren – ein riesiges Reich mit damals rund 180 Millionen Einwohnern. Von der Ungeheuerlichkeit der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember desselben Jahres ganz zu schweigen.

Die Sowjetunion auf der einen, Großbritannien und die USA auf der anderen Seite verkörperten ein Potential an Menschen, Rohstoffen, Territorium und industriellem Potential, das demjenigen der Achsenmächte erdrückend überlegen war. Mit Blick auf diese harten Faktoren erscheint es aus heutiger Sicht völlig klar, dass Deutschland und seine Verbündeten vom ersten Tag an auf verlorenem Posten kämpften.

Aber 1941 stellte sich die Situation aus deutscher Sicht anders dar. Denn im November 1939 hatte Josef Stalin die völlig irrationale Entscheidung getroffen, ausgerechnet den finnischen Teil Kareliens militärisch erobern zu wollen. Karelien war und ist eine landschaftlich sehr schöne Gegend, in der sich Bär und Schneehase gute Nacht sagen, frei von Industrieproduktion, annähernd menschenleer – also ohne jede echte militärische, politische oder wirtschaftliche Bedeutung.

Die gerade vorher durch politische Säuberungen geschwächte Rote Armee rannte wie blind gegen die zahlenmäßig weit unterlegenen, aber entschlossen, militärisch klug und opferbereit kämpfenden Finnen an. Einige Monate später waren mehr als 100.000 Rotarmisten gefallen. Das kleine Finnland hatte sich gegen die sowjetische Dampfwalze behauptet.

Die Erfahrung des Karelienkrieges führte in Berlin zu der Fehleinschätzung hin, die Sowjetunion des militärischen Dilettanten Josef Stalin sei mit einer abbruchreifen Baracke zu vergleichen, bei der es genügt, mit großer Wucht die Türe einzutreten, um deren Zusammenbruch auszulösen. Monatelang schien es 1941 so, als sei diese Einschätzung richtig gewesen. Dann aber, als es um sein oder nichtsein von Mütterchen Russland ging, amerikanisches Kriegsgerät die sowjetische Rüstungsproduktion verstärkte und die sibirischen Divisionen zur Verteidigung Moskaus herangezogen werden konnten, weil die Japaner im Pazifik mit den US-Amerikanern beschäftigt waren, wendete sich das Blatt.

Die russische Armee des Jahres 2022 ist nicht mit der sowjetischen von 1939 zu vergleichen. Sie ist gut ausgebildet und bewaffnet, diszipliniert und zum Teil kriegserfahren. Über die Ukraine zog keine russische Dampfwalze her, vielmehr zerstörte die russische Luftwaffe gezielt und erfolgreich ukrainische Flughäfen sowie Radarstationen, und auf dem Boden gingen kleine Einheiten – insgesamt wenige zehntausend Mann, während die ukrainische Armee über mehr als 200.000 Soldaten verfügt – gegen bestimmte, politisch und militärisch attraktive Ziele vor.

In diesem Kampf haben bislang die Ukrainer jenseits der Krim, des Donbass und der Region Luhansk, wo mehrheitliche Russen leben, die Oberhand behalten. Sie werden offenbar mit Informationen der amerikanischen Satellitenaufklärung versorgt und wissen deshalb immer genau, wo gerade russische Einheiten im Anmarsch sind. Darauf können sie militärisch reagieren, obwohl ihre eigene Aufklärung weitgehend ausgeschaltet worden ist.

Auch die Ukraine von 2022 ist keine Baracke, die rasch zusammenbricht, wenn eine Handvoll Russen dagegen tritt.

Die russische Führung hat nun drei Möglichkeiten:

Entweder, sie fährt die Dampfwalze auf und besetzt die gesamte Ukraine mit mehreren hunderttausend Soldaten. Dagegen hätten die Ukrainer keine Chance. Die Zahl der Toten dürfte in diesem Fall eher fünf- als vierstellig sein.

Oder aber, sie zieht ihre Truppen auf die Krim, den Donbass, die Region Luhansk und möglicherweise noch weitere ukrainische Gebiete zurück. In diesen Fall bleibt die Zahl der Toten drei bis vierstellig, aber Moskau hätte ein Problem damit, den Krieg um die Ukraine als militärischen Erfolg zu verkaufen.

Dritte Option: Die russischen Streitkräfte schalten die ukrainische Führung durch Tot oder Gefangennahme aus und versuchen sodann einen Regimechange. Vieles spricht dafür, dass Moskau diese Lösung favorisiert. Aber der Erfolg hängt von Zufällen ab, die sich bislang nicht so eingestellt haben, wie sie die russische Seite benötigt.

Nein, die Ukraine ist nicht Karelien, Putin ist nicht Stalin und keiner der übrigen Akteure ist ein neuer Hitler. Der Krieg um die Ukraine 2022 muss auch nicht Vorbote eines Dritten Weltkrieges sein. Ab er zeigt uns, dass die Idee vom „Ende der Geschichte“, ausformuliert von Francis Fukuyama unter den Eindrücken des Wendejahres 1989, eine mittelmäßige Schnapsidee gewesen ist.

Es gab nie einen Endsieg des westlichen Liberalismus, und es wird ihn nie geben. Die Geschichte geht weiter, und jene, die ein Stück ihres Weges vor uns gegangen sind, waren nicht bessere, aber auch nicht schlechtere, nicht klügere, aber auch nicht dümmere Menschen als wir es heute sind.

Ob uns dieser Krieg verbrennt oder und wachsen lässt – ich weiss es nicht. Aber hoffentlich heilt er viele unserer Zeitgenossen von ihrem jahrzehntelangen Irrglauben, die beste Menschheit aller Zeiten und ihren Großeltern moralisch und intellektuell weit überlegen zu sein.

Niemand kann seiner geopolitischen Lage entfliehen und bedingungslos in Frieden leben. Das galt vor 80 und vor 100 Jahren, und es gilt bis heute unverändert.

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